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30.04.2024 | Geburtshilfe | Interview | Online-Artikel

Interview

Nachgefragt bei Jana Hartwig

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Hebamme Jana Hartwig

Lachgas ist sowohl bei Gebärenden als auch beim geburtshilflichen Personal beliebt – obwohl das Narkosegas extrem klimaschädlich ist. Jana Hartwig forscht an der Universitätsmedizin Rostock zu diesem Thema und ist Mitglied bei Midwives for Future. Im Interview erklärt die Hebamme, wie geburtsbedingte Schmerzen nachhaltig und klimafreundlich bewältigt werden können.

Im Interview: Hebamme Jana Hartwig ist Mitglied bei Midwives for Future

Welche Aspekte der geburtshilflichen Schmerzmedizin sind besonders klimaschädlich?

Besonders klimaschädlich sind die operative Geburtsbeendigung in Intubationsnarkose sowie die Inhalation von Distickstoffoxid, also Lachgas, zur subpartalen Schmerzlinderung. Insbesondere die Narkosegase Desfluran, Isofluran, Sevofluran und Lachgas sind sehr potente Treibhausgase mit einem hohen Erderwärmungspotenzial. Sie verursachen bis zu 35% der Emissionen einer Klinik. Desfluran ist inzwischen aufgrund seiner enorm schädigenden Wirkung in den ersten Ländern verboten und Lachgas ist neben Kohlendioxid und Methan von der UN-Klimarahmenkonvention als verpflichtend zu reduzierendes Treibhausgas gelistet. In Deutschland finden Intubationsnarkosen heute vorrangig im Notfall statt. Deshalb ist die Anwendung von Lachgas der Punkt, an dem unproblematisch reduziert werden könnte. Hilfreich wäre es zum Beispiel, mit neuen Aktivkohlefiltern die ausgeatmeten Narkosegase wieder einzufangen und aufzubereiten, anstatt sie wie bisher einfach an die Umwelt abzugeben, wo sie ihre erhitzende Wirkung entfalten können.

Wie hoch ist das erderwärmende Potenzial von Lachgas konkret?

Laut dem Umweltbundesamt hat Lachgas im Vergleich zu Kohlendioxid ein fast 300-faches Erwärmungspotenzial. Besonders interessant ist, dass seit 1980 die vom Menschen verursachten Lachgasemissionen um fast 35% gestiegen sind, vor allem aufgrund von Düngeprozessen in der Landwirtschaft sowie industrieller Fischzucht. Zudem ist die atmosphärische Lebensdauer mit circa 120 Jahren extrem lang. Lachgas zerstört die schützende Ozonschicht der Erde weitaus stärker als Fluorchlorkohlenwasserstoffe, die bereits im Jahr 1989 verboten wurden.

Warum ist Lachgas als Analgesie während der Geburt beliebt? Welche Vorteile werden ihm zugeschrieben?

Die Gebärenden sind froh, dass ihnen schnell und ohne Spritzenkontakt ein erleichterndes Mittel zur Verfügung steht, durch das sie Wehen besser verarbeiten können. Hebammenstudierende unserer Fakultät, die es zum Teil aus ihrem Klinikalltag gewohnt sind, mit Lachgas zu arbeiten, sind begeistert, weil der Einsatz einfach ist und die Frauen die Inhalation eigenständig steuern können und zufriedener sind. Für die Arbeit im Kreißsaal wird auch die kurze Wirksamkeit als vorteilhaft angesehen. Die Kliniken haben ein Argument mehr, um für sich bei der Wahl des Geburtsortes zu werben.

Lachgas hat ein modernes, emanzipatorisches Image und wird als unterstützend für die Spontangeburt inszeniert. In den meisten Fällen konzentrieren sich die Gebärenden dann wunderbar auf eine tiefe, gleichmäßige Atmung und es stellt sich ein Geburtsfortschritt ein, der dem physiologischen Geburtsverlauf zu entsprechen scheint. Durch die schnelle An- und Abflutung wie auch die selbstständige Applikation verleiht Lachgas das Gefühl von Autonomie und Selbstkontrolle.

Von Menschen, die Lachgas als Partydroge konsumieren, wird die Wirkung als sehr angenehm, sphärisch weitend und leicht machend beschrieben, im Flash wird die aktuelle Realität verlassen. Die Inhalation trägt zum Wohlbefinden bei und wirkt stimmungsaufhellend. Lachgas ist im Vergleich zu anderen betäubenden Substanzen preiswert. Als Partydroge kostet ein Ballon für den Lachgas-Flash zwischen fünf bis zehn Euro.

Wie ist die wissenschaftliche Evidenzlage zu Lachgas hinsichtlich des Potenzials als Analgesieform?

Lachgas hat in klinischen Studien zum Teil die Wirkung von Placebo oder transkutaner elektrischer Nervenstimulation nicht überschritten. Es gibt demnach keine klare Evidenz für eine schmerzlindernde Wirkung. Das spiegelt sich auch in der geltenden S3-Leitlinie „Die vaginale Geburt am Termin“ wider, wo der Einsatz von Lachgas aufgrund der schlechten Qualität und großen Heterogenität der vorhandenen Studien nur als Expert*innenkonsens aufgeführt wird. Lachgas-Analgesie werde „[…] von den Gebärenden insgesamt gut angenommen, da trotz schwacher analgetischer Effekte die überwiegend anxiolytischen-sedierenden Mechanismen zur Zufriedenheit beitragen […], auch wenn sich nur ein kleiner Teil der Frauen für eine erneute Anwendung entscheiden würde (23%) […]“, heißt es in der Leitlinie.

Welche Nachteile hat Lachgas – abgesehen von der schlechten Ökobilanz?

Häufige Nebenwirkungen sind Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, Müdigkeit und Halluzinationen. All das sind Zustände, die ich mir für eine physiologische Geburt als Hebamme nicht wünsche und die die Gebärende schwächen, anstatt sie in ihre Mitte mit Zugang zu all ihren Ressourcen zu bringen. Außerdem ist die Mobilität der Frauen durch Maske und Schlauch eingeschränkt; zudem belastet es manche Personen, eine Maske zu tragen.

Aufgrund des Verdachts einer toxikologischen Wirkung bei chronischer Exposition, die bei Begleitenden, Pflegepersonal und Hebammen zutreffen kann, ist Lachgas als Gefahrenstoff deklariert. Die Fertilität kann durch den Lachgaskontakt gemindert werden, auch kann eine psychische Abhängigkeit entstehen. Lange und regelmäßige Lachgaskontakte können laut der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zu schweren Nebenwirkungen wie Anämie, Leuko- und Thombozytopenie sowie neurologischen Ausfällen aufgrund einer Störung des Vitamin-B12-Stoffwechsels führen. Es kommt zur Demyelinisierung der Nervenscheiden, klinisch treten zunehmende Lähmungserscheinungen und Polyneuropathien auf. Die Schädigungen sind in der Magnetresonanztomografie deutlich zu erkennen. Behandelt wird mit hochdosiertem Vitamin B 12, im schlimmsten Fall sind die Schädigungen allerdings irreversibel.

Der Lachgaskonsum als Partydroge hat in den letzten Jahren in Deutschland stark zugenommen, besonders unter Schüler*innen. Deshalb wurde Lachgas am 1. Januar 2023 in die Liste verbotener Rauschmittel aufgenommen. Dennoch kann Lachgas in Deutschland ohne Altersbeschränkung weiterhin legal erworben werden. Expertengremien fordern ein zügiges Handeln der Politik und groß angelegte Informationskampagnen, um vor den Risiken der oft unterschätzten Substanz zu warnen. Auch in Großbritannien, wo Lachgas bei bis zu 70% aller Geburten eingesetzt wird, und in den Niederlanden ist der Besitz und Konsum von Lachgas verboten.

Was sind klimafreundlichere und trotzdem wirksame Alternativen zu Lachgas in der geburtshilflichen Analgesie?

Ich muss die Frau mit ihren jeweiligen Bedürfnissen sehen und sie nicht allein lassen, auch wenn ich nicht permanent im Raum bleiben kann. Der Schlüssel liegt in einer funktionierenden Kommunikation und einem belastbaren Vertrauensverhältnis. Selbst wenn ich den Kreißsaal gleich wieder verlassen muss, kann ich verbindliche Absprachen treffen, zum Beispiel „Atmen Sie genauso weiter, wie in der letzten Wehe. In 15 Minuten bin ich wieder bei Ihnen und dann überlegen wir gemeinsam, was wir machen. Es ist alles, wie es sein soll. Dem Kind geht es gut, Sie arbeiten super mit den Wehen“.

Eine Eins-zu-Eins-Betreuung ist natürlich die Grundlage dafür, dass die Frauen gar nicht in die Situation kommen, den Schmerz nicht aushalten zu können. Dafür ist es hilfreich für die Gebärenden, den Geburtsverlauf zu kennen und die Kontraktionen wertzuschätzen, weil sie die Geburt ermöglichen. Durch Bäder, Aromen, Einsatz von Wärme und eine sichere, ruhige Atmosphäre wird die Entspannung der Gebärenden unterstützt. Die Konzentration auf die Atmung ist entscheidend, um gut durch die Geburt zu kommen.

Frühzeitig, aber passend können Spasmo­lytika verabreicht werden. Die klimafreundlichste Lachgasalternative sind Morphine; die patientenkontrollierte Gabe von Remifentanil hat einen etwa zehnmal so großen CO2-Abdruck wie Morphine. Die Periduralanästhesie ist noch einmal 25 % stärker klimaschädigend als Remifentanil, aber Lichtjahre entfernt von dem erd­erwärmenden Potenzial von Lachgas.

Wie können Hebammen selbst die Schmerzbehandlung rund um die Geburt nachhaltiger gestalten?

Die nachhaltigste Lösung, um Schmerzen zu bewältigen, ist eine hebammengeleitete geburtshilfliche Grundversorgung und eine Eins-zu-Eins-Betreuung. Das kann Unter- und Überversorgung deutlich mindern und vor zu frühen und zu vielen Interventionen schützen. Der Bedarf an medikamentöser Analgesie sinkt nachweislich. Weniger Interventionen verringern den Ressourcenverbrauch, die Komplikationsrate und das Abfallaufkommen. So sollen Mütter nachhaltig zufriedener werden.

Die Grundpfeiler einer nicht pharmakologischen Schmerzbewältigung sind Zuwendung, Atmungsanleitung, Wärme und andere Maßnahmen, die der jeweiligen gebärenden Person helfen und somit individuell ausgewählt werden müssen. Um Schwangere in ihrer Entscheidungsfindung hinsichtlich der Schmerzbewältigung unter der Geburt bestmöglich zu stärken, sollten sie ausführlich und klimasensibel über verschiedene evidenzbasierte Methoden der Schmerztherapie informiert werden. Hierzu bieten sich Vorsorgekontakte und Geburtsvorbereitungskurse an.

Das Interview führte Lea Stief

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